Monika Lamers – Chancelvie
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War es Selbstmord? Oder war es Chancelvie, die Harald erschossen hat? Nicht erst am Ende der Novelle wird ihr eigentliches Thema deutlich: Wie Schuld und Unschuld verteilt sind. Doch Chancelvie wird schließlich den Aufbruch wagen und lässt den Leser ahnen, dass sie ihre Zukunft mutig gestalten wird, denn er hat es mit einer starken jungen Frau zu tun. Stark genug, um aus den Belastungen, denen sie ausgesetzt ist – von ihrer Hautfarbe angefangen, über eine harte frühe Kindheit bis zu den Zumutungen ihrer Ehe und den Verdächtigungen einer übereifrigen Staatsanwaltschaft – an Erkenntnissen gereift hervorzugehen.
Dass sie die notwenige Erkenntnis ausgerechnet beim wieder Lesen von Fragmenten ihres eigenen Romans erlangt, ist nicht nur ein literarischer Kniff, mit dem Monika Lamers beide Textarten ineinander verschachtelt, sondern wirft nebenbei ein Licht auf unterschiedliche Möglichkeiten des Schreibens: Der lässige Ton tagebuchartiger Notizen führt den klassischen Erzählduktus des Schlüsselromans ad absurdum, obwohl es eben dieser Text war, der den Anfangsverdacht genährt hatte.
Also doch nur ein Krimi?
Entscheiden Sie selbst!
Benedikt Maria Trappen über Monika Lamers »Chancelvie«
Mord oder Selbstmord? – Der gewaltsame Tod eines Deutschlehrers rückt Chancelvie, die farbige Autorin eines nie veröffentlichten Romans über ihre Begegnung mit dem Toten, ins Blickfeld der Ermittler und zwingt sie, ihren einst im Garten vergrabenen, von Spezialisten anhand der defekten Festplatte inzwischen wieder hergestellten alten Roman in der Einsamkeit der Untersuchungshaft wieder zu lesen. Die dabei aufkommenden Erinnerungen an den Roman hinter dem Roman – die sogenannte Wirklichkeit – ermöglichen es der Autorin, ihr damaliges Schreiben zu hinterfragen und zu erklären. Die familiäre und gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich darin spiegelt, ist geprägt vom Zwang zur Verstellung, der Unmöglichkeit, einfach man selbst zu sein, zu lieben und geliebt zu werden. Bürgerliche Erziehung, Konventionen, Moral, Religion und immer wieder Mitleid verstricken die Protagonisten in der präzisen Tiefenwahrnehmung der Autorin heillos in Rollen, die keine Chance zum wirklichen Leben lassen. Chancelvie, die ihre unstillbare Sehnsucht nach dem Anderen nicht aufgeben will, sucht diese Chance zum Leben auch in der Beantwortung von Kontaktanzeigen, womit ihre Geschichte mit dem nun toten Lehrer ihren Anfang nahm. Am Ende steht die Einsicht, dass Einsamkeiten sich gegenseitig nicht aufheben können, aber auch die Frage, ob das Wissen um die Unentrinnbarkeit der Einsamkeit uns nicht mitschuldig werden lässt an der tödlichen Verzweiflung anderer. Die Konzeption des Buches ermöglicht einen aufschlussreichen Blick hinter das Handwerk des Schreibens, die Wirklichkeit der Kunst und die Kunst des (Über-)Lebens. Es konfrontiert den Leser aber auch eindringlich mit der Frage nach dem Bestand seines eigenen Lebens, dem Maß seiner Freiheit, Echtheit und Liebe. Eine Zumutung, die gleichwohl Mut machen kann für den auch heute noch notwendigen Aufbruch aus dem Gefängnis der Einsamkeit.